Besprechung für Vineland
(Notiz zum Film «One Battle After Another» am Ende der Besprechung)
Thomas Pynchon erbaut seine Roman-Welt, indem er Unwahrscheinliches mit der grössten Selbstverständlichkeit präsentiert, um dann in realistischer Tiefenschärfe Details aus dem Alltag der Figuren zu erzählen. Damit schafft er eine Glaubwürdigkeit im Einzelnen, die der Leser von alleine in die Breite eines alternativen geschichtlichen Panoramas extrapoliert. Die scheinbar verschwenderische Fülle von Pynchons Phantasie steht im Dienst einer effektiven Roman-Ökonomie, die ein in der zeitgenössischen Literatur ziemlich einzigartiges Lektüreerlebnis ermöglicht. Der Roman setzt sich quasi im Kopf des Lesers fort, auch nachdem er das Buch zuklappt.
Allerdings muss der Leser dafür eine gewisse Konzentration aufbringen, sonst verliert er rasch den Faden – und die Leselust. In «Vineland» wechseln die Zeitebenen und das Personal unvermittelt, und unversehens findet man sich ganz woanders mit anderen Protagonisten also noch auf der Seite zuvor. Es braucht also etwas Geduld (und ein gelegentliches Zurückblättern), bis sich die Erzählsplitter zu einem dystopischen Ganzen zusammenfügen.
Wir befinden uns im Kalifornien in der Ära von Präsident Reagan, der mit geballter Staatsmacht den Freiraum der Späthippie-Kommunen und revolutionären Splittergruppen beschneidet. Im Zentrum der Erzählung stehen Frenesi Gates und der Bundesanwalt Brock Vond, ein unwahrscheinliches temporäres Liebespaar: Er will die aufrührerische Jugendkultur der 1970er Jahre zerstören und wieder Ruhe und Ordnung herstellen, sie arbeitet in einem Filmkollektiv an der Revolution. Brock benutzt Frenesi, um die linke Szene auszuspionieren und zu unterwandern. Sie realisiert das, kann aber der erotischen Anziehung Brocks nicht widerstehen. Indirekt ist Frenesi für den Tod eines Anführers ihrer Gruppe verantwortlich, und sie taucht dann in einer Art Zeugenschutzprogramm unter, die Verbindungen zu ihrem früheren Leben und auch zu Brock kappend.
Diese Ereignisse rekonstruiert Frenesis Tochter Prairie, die bei ihrem Vater und unverbesserlichen Kiffer Zoyd aufgewachsen ist, vor allem mit Hilfe von D.L., einer Freundin von Frenesi, die einst als Auftragskillerin versucht hat, Brock zu ermorden, mit einer esoterischen Martial Arts-Technik. Beim Attentat kommt es allerdings zu einer Verwechslung, mit grotesken Folgen, so dass Brock auch in der Erzählgegenwart sein Unwesen treibt, bis fast ganz zum Ende, als er versucht, Prairie zu entführen, vermutlich um Frenesi wieder gefügig zu machen.
Die Atmosphäre des Romans ist eine eher düstere, als breite sich der Grauschleier eines existenziellen hangovers über die Szenerie – Drogen- und Alkoholkonsum sind allgegenwärtig. Die Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre ist einer Resignation gewichen, verkörpert durch die eigenartige Community der Thanatoiden: Das sind Leute mit einem karmischen Problem, die das Leben nur freudlos und todessehnsüchtig in einer Art Purgatorium absolvieren. Zu den Thanatoiden gehören aber auch Leute, die bereits verstorben sind, und doch nicht so ganz vom Leben loskommen.
Aus heutiger Sicht geradezu prophetisch, welche Macht Pynchon in diesem im Original 1990 erschienenen Roman den Bildschirmen einräumt. Grossartig die Szene, als der fernsehsüchtige Ex-DEA-Beamte Hector auf dem Rücksitz seines Autos ein Fernsehgerät montiert, das er im Rückspiegel sehen kann. Dazu sieht er vor sich durch die Frontscheibe mit der vorbeiziehenden Landschaft eine Art Live-TV, der Süchtige ist rundum versorgt.
Die raschen Szenenwechsel der Erzählung sind dem TV-Zappen nachempfunden. Nicht nur in den etwas gar stark von der Alltagsrealität abgekoppelten Kapiteln, die in Japan spielen, macht Pynchon Anleihen bei Filmgenres, zum Beispiel bei Monster- oder Yakuzafilmen. Dazu kommen allerlei Anspielungen auf Literatur oder die Popkultur, Musik spielt, wie immer bei diesem Autor, eine grosse Rolle.
In seinen Romanen manifestiert Pynchon ein leidenschaftliches Interesse an der Geschichte der USA in den verschiedenen Epochen. Die verfremdeten Welten, die er kreiert, lassen die tatsächlichen Ereignisse wie hier das Aufblühen und den Niedergang der Hippie-Kultur in einer neuen, bedenkenswerten Perspektive erscheinen. Eine Pynchonsche Ver-rückung ins Extreme ist vielleicht kein schlechtes Rezept, um die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in den USA zu antizipieren oder zu verstehen.
Notiz zum Film
One Battle After Another, Film von Paul Thomas Andersen (2025; 161 Minuten)
Paul Thomas Anderson übernimmt viele Plotelemente aus Thomas Pynchons «Vineland», auch wenn er den Schluss filmdramaturgisch umgestaltet und zuspitzt.
Zu Beginn sehen wir das Paar Perfidia (mit viel Sex-Appeal gespielt von Teyana Taylor) und Pat (Leonardo DiCaprio) im revolutionären und erotischen Taumel, comic-artig spektakulär in Szene gesetzt. Taylor alias Perfidia ist Afroamerikanerin, anders als das Roman-Vorbild Frenesi, nicht ganz unerheblich für den Filmplot. Die Beziehung geht nach der Geburt der Tochter Charlene in die Brüche, wobei auch die fatal attraction zwischen dem Beamten und Revoluzzer-Jäger Lockjaw (Sean Penn) und Perfidia eine Rolle spielt.
Der Film zeigt uns nach einem Zeitsprung den ziemlich orientierungslosen, dauerkiffenden alleinerziehenden Vater Pat in der Hauptrolle, der aber dann mit erstaunlicher Energie seine Teenager-Tochter vor der mit völlig übertriebenen Mitteln plötzlich auffahrenden Staatsgewalt zu retten versucht. Der durchgeknallte Sicherheits-Beamte Lockjaw hat private Motive für diesen Polizei-Einsatz, es geht ihm weniger um illegale Immigration, Drogenmissbrauch und revolutionäre Umtriebe: Er will herausfinden, ob er doch der Vater von Charlene ist. Im Hintergrund spielt dabei eine abstrus-rassistische Neonazi-Vereinigung eine Rolle, der Lockjaw beitreten will.
Die Vater-Tochter-Beziehung hat im Film noch mehr Gewicht als im Buch, mit einer erfrischend aufspielenden Chase Infinity als Charlene. Im Film deutlich weniger prominent als im Buch ist Deandra (im Roman D.L.), die ehemalige Freundin Perfidias und Mentorin Charlenes.
Der Film adaptiert die Geschichte mit satirischem Grundton aus «Vineland» in überzeugender Weise, wobei der furiose Auftakt mit der fiebrigen Energie das Publikum etwas überfordern mag. Der Film reduziert die Komplexität des Plots zugunsten einer besseren Erzählbarkeit und forciert gekonnt die im Roman angelegte Thriller & Action-Schiene. Aber er entwickelt eine eigene Ästhetik, teilweise mit überlangen Einstellungen, die Pynchons Verfremdung der Welt im Roman adäquat widerspiegelt.